Der Fall Siemens
Die erste Information hatte uns über einen freien Journalisten aus Genf erreicht, mit dem wir immer wieder einmal erfolgreich und angenehm zusammenarbeiteten. Er war mit einem spanischen Kollegen befreundet oder näher bekannt, der ebenfalls in Genf lebte: Juan Gasparini. Ich reiste am 13. September 1996 zu Juan Gasparini, an meinem 41. Geburtstag. Wir sprachen lange über das Thema, an dem Gasparini bereits seit längerer Zeit arbeitete, und ich fand ihn sehr überzeugend. Es ging um die Münchner Weltfirma Siemens und ihre spanischen Projekte, darum, wie Siemens-Schmiergelder dazu dienten, die lukrativen iberischen Aufträge an Land zu ziehen. Nun steckte ich auch in einer neuen Recherche und sollte mich monatelang darum kümmern.
Das war passiert: Der frühere Chef der Guardia Civil, Luis Roldan, war im Februar 1995 nach einer zehnmonatigen, spektakulären Flucht in Südostasien verhaftet worden. Roldan – ein Mann mit vielen Erfolgen im Kampf gegen die baskische Untergrundorganisation Eta - hatte Steuern hinterzogen. Das Finanzministerium stellte in seiner Einkommensteuererklärung einen Fehlbetrag von 1,127 Milliarden Peseten fest. Ermittlungen der spanischen Justiz ergaben, dass Roldan Bankkonten in der Schweiz unterhielt. Darauf waren im Laufe von zwei Jahren 58 Schecks á 100 000 Mark und einer in Höhe von 170 840 Mark einbezahlt worden. Nachforschungen der Schweizer Justiz ergaben, dass diese Gelder von Siemens kamen. Eineinhalb Jahre versuchten die eidgenössischen Staatsanwälte Licht in das Dunkel der ersten Siemens-Bestechungsaffäre zu bringen.
Längst beschäftigten sich die spanischen Medien mit dem Fall Roldan, der rasch zu einem Fall der sozialistischen Regierungspartei und – auch - zu einem Fall Siemens wurde. Der deutsche Konzern, so wurde gemunkelt, soll bereits 1992 beim Verkauf von Flughafen-Röntgengeräten der Marke „Heimann Hi-Scan 6040-A" geschmiert haben, später erneut, um einen besonders fetten Auftrag für die Elektrifizierung der Schnellzug-Strecke Madrid-Sevilla zu erhalten. Als Empfänger der „comisiones" wurde nicht nur der ehemalige Chef-Polizist ausgemacht, sondern auch ein früherer Gouverneur der Notenbank und weitere Partei-Granden, zum Beispiel der frühere Regierungschef der autonomen Region Navarra. Zahlreiche Mistreiter des Regierungschefs Felipe Gonzalez wurden belastet. In der ersten Phase ging es auch um Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Bauaufträgen und um Geldbeschaffung für die Partei. Roldan soll zu alledem einen Geheimfonds des Innenministeriums geplündert haben, der zur Bekämpfung der Eta eingerichtet worden war.
Schon Ende 1995 wurde Siemens öffentlich mit den sich häufenden spanischen Skandalen in Verbindung gebracht. Der Konzern gab sich ahnungslos und dementierte, für Großaufträge Schmiergeld bezahlt zu haben. Die FAZ zitierte ein Siemens-Statement: „Man prüfe die Vorgänge selbst hausintern und sei an Aufklärung interessiert."
Im März 1996 wurde bekannt, dass ein Madrider Gericht den ehemaligen Spanienchef von Siemens und mehrere Mitarbeiter aus der Sparte Verkehrstechnik zu Zeugenaussagen vorgeladen hatte. Der Termin sei für September geplant. Siemens erklärte wieder, dass den Kollegen „keine ungesetzlichen Handlungen" vorzuwerfen seien. Noch waren die Reihen fest geschlossen. Siemens sah es im August 1996 als notwendig an, eine Gegenoffensive zu eröffnen. In allen großen spanischen Zeitungen ließ die deutsche Firma Anzeigen abdrucken: „Anlässlich der in der Presse veröffentlichten Informationen über den Zuschlag für das von Siemens geleitete Konsortium bei der Elektrifizierung und beim Bau der Signalanlagen der Hochgeschwindigkeitsstrecke Madrid-Sevilla werden falsche Interpretationen über die Ermittlungen verbreitet."
Aus dem Büro der Madrider Ermittlungsrichterin Teresa Chacón sickerte durch, dass Siemens 1,6 Millionen Mark gezahlt haben soll, um den Auftrag im Wert von 1,6 Milliarden zu erhalten. In einem Untersuchungsbericht des spanischen Finanzministeriums stand, dass Siemens die „nützlichen Aufwendungen" mutmaßlich sehr geschickt wieder hereingeholt hatte – durch Preissteigerungen bei Loks und Waggons in Höhe von 50 Millionen Mark, durch 51 Prozent Preiserhöhung bei den Signalanlagen und 33 Prozent bei den Oberleitungen. Noch war nichts Genaues bekannt.
Einen Monat später ergab sich der Kontakt zwischen FOCUS und Juan Gasparini. Der Spanier verfügte aufgrund intensiver Recherchen über einen Schatz an Informationen und Dokumenten. Er hatte herausgefunden, dass die Siemens-Gelder ihre lange Reise nach Spanien in Frankfurt begonnen hatten. Sie waren in die Schweiz überwiesen und dort von den beiden einschlägig bekannten Treuhändern Alois Dobler und Ulrich Kohli weiter transferiert worden. Allein Kohli habe zehn Jahre lang bis zu 80 Millionen Mark per annum übermittelt.
Als wir uns in Genf trafen, hatte die lokale Justiz ihre Recherchen noch nicht abgeschlossen. Gasparini und sein Schweizer Kollege wussten aber, dass Untersuchungsrichter Paul Perraudin den Verdächtigen Ulrich Kohli massiv unter Druck gesetzt, und dieser daraufhin seine Aktionen im Auftrag von Siemens gestanden hatte. Auf dem Umweg über die neutrale Schweiz seien große Summen gelaufen – wegen der Geiselfälle im Libanon und in Kolumbien, wegen der Bauprojekte in Spanien und Südamerika. Im Wirtschaftsmagazin „Capital" wurde Kohli noch 2007 als „ein Mann für alle Fälle, auch für Grenzfälle" bezeichnet.
Die Genfer Justiz hatte auf dem lokalen Roldan-Konto bei der Union Bank Suisse zehn Millionen Mark entdeckt. Ein anderes Konto lief auf Jorge Esparza, dem Schatzmeister der Sozialistischen Partei Spaniens. Er stand in engem Kontakt zu Roldan. Insgesamt wurden in Genf 113 Schecks von Kohli und Dobler der Spanien-Connection zugeordnet. Die Gesamtsumme lag bei 20 Millionen, der Roldan-Anteil bei 5,75 Millionen Mark.
Das interessierte auch die Brüsseler Anti-Korruptions-Abteilung der EU, die sich gerade in die Ermittlungen eingeklinkt hatte. Bei der spanischen Schnellzugstrecke AVE waren nämlich offizielle EU-Gelder geflossen. Im September 1996 wurde noch nicht gegen Siemens ermittelt, sondern gegen die Schweizer Banken – wegen des Geldwäschegesetzes der Alpenrepublik. Auch in der Bundesrepublik Deutschland waren Schmiergeldzahlungen an ausländische Amtsträger noch nicht strafbar. Ein entsprechendes Gesetz wurde erst im Februar 1999 verabschiedet. Nur in den Empfängerländern verstießen die Aktionen der Siemensianer gegen bestehende Gesetze.
Wir stiegen in die Recherche auf deutscher Seite ein. Von Anfang an verfügten wir, aufgrund der Genfer Kontakte, über eine eindrucksvolle Sammlung von Original-Dokumenten aus den Beständen der Justiz und der Banken sowie der spanischen Polizei. Dazu gehörte auch die Liste der Siemens-Schecks und die Reisebewegungen der Hauptbeteiligten in Genfer Hotels.
Die Nachforschungen in Sachen Siemens waren mit der FOCUS-Chefredaktion exakt abgestimmt. Schließlich benötigte ich eine Unterschrift des damaligen stellvertretenden Chefredakteurs Uli Baur, um Juan Gasparini ein (zugegeben mageres) Informationshonorar von 2500 Mark anzuweisen.
Es zählt zu den ehernen Säulen des Journalismus, auch die Betroffenen einer solchen Affäre zu befragen und zu Wort kommen zu lassen. Also wandte ich mich, als wir genug Dokumente und Fakten zu haben glaubten, an die Konzernleitung von Siemens. Ich bat um ein persönliches Gespräch. Das wurde Wochen später gewährt. Am Wittelsbacherplatz, im Zentrum Münchens, saß ich dem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit (Corporate Communications) gegenüber. Er hieß Eberhard Posner und war ein enger Vertrauter des seit Oktober 1992 amtierenden Vorsitzenden des Vorstands der Siemens AG, Heinrich von Pierer.
„Schmiergeld", sagte der eloquente Posner mit einem Augenaufschlag, der Erstaunen ausdrücken sollte, „davon wissen wir nichts." Die Schecks seien in der Schweiz ausgestellt worden. Inhaberschecks, keine Namensschecks. Mit „ganz großer Sicherheit" habe Siemens keinen Scheck „in Richtung Roldan" geschickt. „Unsere Spanier", sagte Posner, diesmal milde lächelnd, schwören Stein und Bein, dass sie mit Herrn Roldan keinen Kontakt haben." Dass Siemens-Gelder ihren Weg in die spanische Terrorismusbekämpfung gefunden hätten, das sei durchaus problematisch. Das könne Ärger mit der Eta bringen, Mitarbeiter gefährden. Im übrigens sei Siemens ein Erfolgsmodell, auch in Spanien. 2200 Mitarbeiter, 1,8 bis 2 Milliarden D-Mark Umsatz. Flächendeckende Aktivitäten. Spanien stehe bei Siemens an neunter Stelle, was das Auslandsengagement betreffe. „Und glauben Sie mir", warf Posner an der richtigen Stelle ein, „wir tappen im Dunkeln". Es gebe in Spanien kein Ermittlungsverfahren gegen den Konzern. Selbstverständlich verfolge man alle Spuren. Wir danken für das Gespräch.
20 Minuten später kam ich zurück in die FOCUS-Redaktion. Nun passierte etwas, was ich niemals zuvor und niemals danach erleben durfte. Chefredakteur Helmut Markwort wartete bereits ungeduldig auf mich. Schweigend hörte er zu, als ich seinem Stellvertreter von der Siemens-Besprechung erzählen wollte. Ich kam nicht weit. Markwort unterbrach mich und verkündete seine längst feststehende Entscheidung. Das sei kein Thema für FOCUS. Wir sollten die Recherchen einstellen und nicht weiter verfolgen. Erneut werde eine angesehene deutsche Firma verleumdet und in der Öffentlichkeit als kriminell dargestellt. Im übrigen könne ein solcher Artikel gefährliche Folgen für die spanischen Siemens-Mitarbeiter haben, wenn er von den falschen Leuten gelesen würde. Man dürfe die Eta nicht unterschätzen. Das Argument kam mir irgendwie bekannt vor. Markwort schien den Inhalt der Unterredung mit Eberhard Posner genauer zu kennen, als ich sie bei FOCUS in den wenigen Minuten vortragen konnte.
Das war das rasche – und absolut amateurhafte - Ende des ersten Versuchs, die Siemens-Schmiergeldaffäre mit vielen Dokumenten und detaillierten Hintergründen in einem deutschen Magazin zu präsentieren.
Ich erinnere mich, dass in jener Zeit ein Foto publiziert wurde, das mehrere ältere Herren beim Tennismatch zeigte. Zwei von ihnen hießen Helmut Markwort und Heinrich von Pierer.
Weiter in der Chronologie: Luis Roldan wurde 1998 vom Landgericht Madrid zu 28 Jahren Haft verurteilt. Der frühere Regierungschef von Navarra musste eine elfjährige Haftstrafe antreten. Der frühere sozialistische Innenminister und dessen Staatssekretär bekamen wegen illegaler Antiterror-Aktivitäten der Todesschwadron GAL je zehn Jahre Haft. Roldan war gegen sie als Zeuge aufgetreten.
In deutschen Zeitungen stand zu lesen, dass die Münchner Staatsanwaltschaft die Siemens-Akten der spanischen Kollegen angefordert hatte. Ein Sprecher der Ankläger wurde zitiert, dass man so herausfinden wolle, „ob wir hier selbst von Amts wegen aktiv werden müssen und eigene Ermittlungen einleiten". Nach deutschem Recht sei die Zahlung von Bestechungsgeldern im Ausland straffrei. Die Unterschlagung von EU-Geldern sei jedoch ein Gesetzesverstoß, falls der Vorwurf zutreffe.
Aus dem „SPIEGEL" vom 27. April 1998: „Die Staatsanwaltschaft München I hat gegen den Elektronikkonzern Siemens Vorermittlungen wegen des Verdachts des Betruges sowie der Beihilfe zur Untreue eingeleitet. Die Strafverfolger prüfen, ob sich Siemens-Mitarbeiter eventuell in Deutschland durch die Zahlung von Bestechungsgeldern in Spanien strafbar gemacht haben.... Siemens geht davon aus, dass sich kein Mitarbeiter strafbar gemacht hat."
Erst im November 2006 löste eine Durchsuchungsaktion der Münchner Staatsanwaltschaft weltweite und nachhaltige Ermittlungen zu den Bestechungspraktiken des Siemens-Konzerns aus.