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Der Fall Bubis

Unter Kontingentflüchtlingen versteht das deutsche Ausländerrecht Zuwanderer, die im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion beispielsweise mit einer Übernahmeerklärung des Bundesinnenministeriums ins Land kommen. Über vorgegebene Kontingente werden sie dann auf die einzelnen Bundesländer verteilt.
Nach der Wende in der alten Sowjetunion bekamen jüdische Emigranten ab 1991 die Möglichkeit, als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik einzureisen. Der Innenminister-Beschluss öffnete Schleusen. Zwischen 1991 und 2004 nahmen 219 604 jüdische Zuwanderer aus Russland und früheren Satellitenstaaten ihren Wohnsitz im neuen Deutschland. Erst dann ließ der Zustrom nach.
Schon bald nach Beginn der Aktion erhoben Politiker, Diplomaten und andere Kenner der Situation ihre warnenden Stimmen. Beispiel: Alexander Arnot, bis zu seiner Pensionierung 1996 deutscher Botschafter in Kiew, teilte dem CSU-Landtagsabgeordneten Günter Gabsteiger beunruhigende Beobachtungen mit. In seinem Schreiben hieß es: „Nur in seltenen Fällen erklären jüdische Antragsteller, dass sie zum jüdischen Glauben eine engere Beziehung haben. In den meisten wird offen zugestanden, dass man nach Deutschland und nicht nach Israel auswandern möchte, weil .... die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland wesentlich besser sind."
Das größte Ärgernis sei jedoch der massenhafte Betrug mit gefälschten Abstammungsurkunden. Ex-Diplomat Arnot stellte ganz klar fest: „Höchstens 40 Prozent der aufgenommenen Personen können formal als Juden angesehen werden." Ein Mitarbeiter der zentralen Wohlfahrtsstelle bei der jüdischen Gemeinde zu Berlin erzählte mir: „Für 500 Mark bekommen Sie in der ehemaligen Sowjetunion echte falsche Papiere. Heute sind 90 Prozent unserer Neuzugänge in Berlin reine Passjuden."
Als sich solche Aussagen häuften, erkannten auch wir bei FOCUS das zentrale Thema. Kein Zweifel, die Einwanderungsregelung für Kontingentflüchtlinge lud zum Missbrauch ein. Ich begann zu recherchieren. Der mutige Franke Günter Gabsteiger blieb bei seinen Aussagen („Wir wissen, dass man uns betrügt, können es aber in den meisten Fällen nicht beweisen.") und ließ sich auch von Bedenkenträgern nicht einschüchtern. Auch Ex-Botschafter Arnot rückte im persönlichen Gespräch nicht von seinen schriftlichen Notizen ab. Er berichtete von Ukrainern, die in der alten Heimat gemeldet blieben, ihre Immobilien oder Firmen behielten und in Deutschland zusätzliche Geschäfte organisierten. In Extremfällen lief das parallel zur Sozialhilfe, die 80 Prozent der Kontingentflüchtlinge bezogen.
Beim bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz entdeckte ich einen internen Bericht zum Thema „Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes" Gz.: 52003-307-S-941 020-/97). Konkret ging es auf 14 Seiten um „Missbräuchliche Nutzung des Verfahrens durch nichtberechtigte Personen". Die Münchner Verfassungsschützer äußerten den Verdacht, die Russenmafia organisiere den Handel mit gefälschten jüdischen Dokumenten und schleuse nebenbei auch eigene Leute als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Das BfV-Papier führte fünf konkrete Fälle aus der Praxis der bayerischen OK-Ermittler an.
Mit diesem brisanten Papier griff ich natürlich in ein Hornissennest. Der damalige Innenminister Günther Beckstein, dem das Landesamt für Verfassungsschutz unterstand, äußerte sich sehr vorsichtig: „Die Aufnahme von Juden aus der Sowjetunion erfolgt auf ausdrücklichen Wunsch des Zentralrats der Juden in Deutschland. Eine Änderung des Aufnahmeverfahrens ... wird sich nur auf höchster politischer Ebene auf entsprechendes Drängen des Zentralrats der Juden erreichen lassen." Absolut gereizt reagierte der Vorsitzende des Zentralrats, Ignatz Bubis, auf die Erkenntnisse der bayerischen Sicherheitsbehörden. In einem ziemlich emotionalen Gespräch erwiderte er auf meine Frage zum OK-Vorwurf: „Darüber diskutiere ich nicht. Wissen Sie, da gibt es einen deutschen Mörder. Was würden Sie sagen, wenn Ihnen jemand sagt, alle Deutschen sind Mörder."
Bubis griff zur verbalen Keule. Er unterstellte deutschen Beamten, die über die Einreise osteuropäischer Juden zu entscheiden hatten, ganz persönliche Feindseligkeit. Bubis wörtlich: „Bei den politischen Entscheidungen spielt möglicherweise ein Stück Antisemitismus eine Rolle, nicht bei den bürokratischen." Bonn, so der Lobbyist des Zentralrats, müsse dafür sorgen, dass die Kontingentregelung „auch von den einzelnen Beamten durchgeführt wird".
Daraus entstand ein vierseitiger FOCUS-Artikel, der in der Ausgabe 7/97 unter dem Titel „Gekaufte Urkunden" erschien. Nach freimütigen Statements, die so manchen Leser erhitzten, endete der Artikel eher versöhnlich. Ich zitierte den Berliner Jerzy Kanal, Vorsitzender der wichtigsten jüdischen Gemeinde in Deutschland: „Wir denken, dass die Religiosität bei der nächsten oder übernächsten Generation wieder zurückkehren wird. Diese Menschen können das jüdische Leben in Deutschland nur bereichern."
Trotzdem brachen nach unserer Geschichte die unsichtbaren Dämme. Wir erhielten Anrufe und Zuschriften aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Die engagierten Leser signalisierten überwiegend Zustimmung. Von Polizeibeamten und Staatsanwälten erfuhren wie über weitere Ermittlungsverfahren gegen Kontingentflüchtlinge. Ihre Delikte reichten von Sozialbetrug bis zur handfesten organisierten Schwerkriminalität. Aufgrund dieser massiven Leserreaktionen entschieden wir uns, einen Nachfolgeartikel zu recherchieren.
Zeitnah schlug auch die Gewerkschaft der Polizei, Landesverband Berlin, Alarm. Eine Reihe von Ermittlungsverfahren habe „konkrete Hinweise auf Schleuserorganisationen" gebracht, die „einen schwunghaften Handel mit gefälschten jüdischen Abstammungsurkunden betreiben". Damit werde zahlreichen Zuwanderern aus den GUS-Staaten zu einer angeblich jüdischen Abstammung verholfen, „obwohl diese keinerlei Verbindungen zur jüdischen Glaubensgemeinschaft pflegen oder jemals pflegen werden". Das Fazit der Berliner Polizei: „Hier haben sich russische Verbrecherorganisationen ein finanziell recht einträgliches Betätigungsfeld erschlossen. Da in Deutschland Diskussionen über ´jüdische Einwanderungen´ mit einem öffentlichen Tabu belegt sind, setzen die Drahtzieher auf einen geringen Verfolgungsdruck deutscher Ermittlungsbehörden und vertrauen darauf, das sich das Entdeckungsrisiko in Grenzen hält."
Zusammen mit dem Bonner FOCUS-Kollegen Michael Jach traf ich Bundesaußenminister Klaus Kinkel zum Thema jüdische Kontingentflüchtlinge. Der FDP-Politiker verteidigte die geltende Regelung und konnte „nur wenige Mißbrauchsfälle" entdecken. Die Zuwanderung sei „ein sichtbares Zeichen der Wiedergutmachung für das während der NS-Zeit begangene Unrecht". Auch Bayerns Günther Beckstein nahm noch einmal ausführlich Stellung. In dem von ihm autorisierten Interview-Text hieß es später wörtlich: „Ganz eindeutig benutzen Kriminelle die Kontingentflüchtlings-Regelung, um sich nach Deutschland einzuschleusen. Es ist anzunehmen, dass auch die Russen-Mafia diese Regelung ausnützt. Hier lebende russische Geschäftsleute oder auch Kontingentflüchtlinge können, im Gegensatz zu Asylberechtigten, in die Herkunftsländer reisen. Manche von ihnen verschicken Einladungen an Geschäftspartner in der GUS und lassen mögliche Mittäter einreisen. Das ist ein massiver Missbrauch unseres Systems."
Selten hat sich die Produktion einer FOCUS-Geschichte so lange hingezogen. Mit immer neuen, fadenscheinigen Argumenten schob die von Helmut Markwort geleitete Chefredaktion die Veröffentlichung hinaus. Die Interviews mit Kinkel und Beckstein fanden 1998 statt, mehr als ein Jahr nach dem ersten Artikel, der soviel Aufsehen erregt hatte. Inzwischen klagten Berliner Kontingentflüchtlinge gegen FOCUS, wurden verbündete und eigene Medien sowie Politiker in Stellung gebracht. Da half es irgendwann auch nicht mehr, dass sich die fetten Überschriften der Tageszeitungen im Sinne unserer Recherchen häuften. Ein simples Beispiel aus der „Stuttgarter Zeitung" vom 24. Februar 1999: „Verdeckte Sonderermittler lassen Schleuser auffliegen/48jähriger Mann festgenommen/Mehr als 100 Russen und Letten falsche jüdische Papiere verschafft".
Die aktive Einflussnahme auf FOCUS, mal subtil und durch die Blume, dann wieder mit der unverhüllten Androhung juristischer oder politischer Aktionen, eskalierte. Ignatz Bubis nahm FOCUS Ablauf und Inhalt unseres Interviews – aber auch die darüber hinausreichenden Recherchen zum OK-Vorwurf - bis zu seinem Tod im August 1999 übel. Als das für einen Politiker erstaunlich eindeutige Beckstein-Interview eine Weile in der FOCUS-Redaktion gelegen hatte, zog das Münchner Ministerium den Text mit dem Hinweis zurück, dass solche Aussagen knapp vor Wahlen eher schaden als nützen würden. Eins kam zum anderen, und so entschied die FOCUS-Chefredaktion das Thema aus dem Heft zu verbannen. Unser umfangreiches, sehr beweiskräftiges Material wurde per hausinterner, mündlicher Anordnung unter den Teppich gekehrt. Es gibt unangenehme Themen, wo es schon lange nicht mehr auf die richtigen Fakten ankommt.
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